Malkontent & Enthusiastisch

»Ihr naht Euch wieder, schwankende Gestalten«

  • Das Knie des Obergefreiten Wieland

    bq. »Oft werde ich gefragt, woher ich das alles weiß. Nun, dass die gedruckten Buchstaben in den Bibliotheken etwas mit der Geschichte zu tun haben, das ist ein Irrtum. Die Geschichte sind wir, die Toten und Totenteile. …Jede Zelle eines Körpers, die nicht umkommen wollte, weiß den Anfang des Abendlandes, bis zu den Sternen hin und wie es einmal endet. Nur das zänkische Gehirn weiß es nicht. So wissen wir toten Zellen eigentlich alles und haben außerdem Grund, es zu wissen. Die Wiederauferstehung der Toten nämlich (und wer wollte schon umkommen?) setzt die gründlichsten Geschichtskenntnisse voraus. Im Grunde bin ich also Geschichtswissenschaftler.«
    Auf der Leinwand erscheint das Bild eines Hitlerjungen, der seinen
    Mund für Begeisterungsrufe weit aufgerissen hat. Die Sequenz ist stumm. Das Knie dokumentiert:
    bq. »Dies war einmal mein Herr, Obergefreiter Wieland, 8 Jahre bevor er in Stalingrad umkam. Wollte leben, befand sich in der falschen Geschichte…«
    Zu den Bildern paradierender Soldaten bemerkt das Knie:
    bq. »Nun ist festzuhalten, dass ein Knie grundsätzlich vorwärtsschreitet. Alle halben Meter einknicken und alle halben Meter straffen. Das über 2000 Kilometer bis Stalingrad, dirigiert von einem zänkischen Gehirn, das ja jetzt im Nordkessel liegt und nichts mehr zu sagen hat.«
    Zu den Bildern der Wohnung Lenins reflektiert das Knie:
    bq. »Hier die Nutzmöbel in der Wohnung Lenins. Was tun? Eine Köchin soll die Volksfrontregierung lenken: Ist nicht erprobt worden. Was tun? Massenhaft anstürmen als totes Knie? Oder sich verstellen? Die Veränderung aller Verhältnisse, das ist eine Wahrnehmung. Wenn diese Geschichte nicht wäre, wäre bestimmt eine andere. Vom Standpunkt eines toten Knies muß man es negativ sagen. Nicht: Was tun? Sondern: Was tue ich nicht. Wenn mein zänkisches Gehirn sagt: Tue das, so weiß ich, was ich nicht tue, ich laufe nicht, sondern stolpere.«

  • Die Arbeitsbegriffe des Alexander Kluge

    bq. »Einfältig sind in der Industrie nicht die Arbeitsvermögen selber, sondern deren instrumentelle Organisierung. Will man sich den Gegensatz klarmachen, so stelle man sich den Besuch eines tayloristischen Arbeitszeitmessers in einem ehelichen Schlafzimmer vor. Er sagt: ,Das, was Sie als Eheleute hier tun, ist nicht praktisch. Man kann einige Irrtumshandlungen und Umwege ausgliedern, und Sie erhalten Ihre Höhepunkte, an denen Sie bisher bis zu einer Dreiviertelstunde laborieren, leicht innerhalb einer Minute. Außerdem sollte es nicht dem Zufall der Stimmungen überlassen sein, wann Sie sich auf solches Tun einigen. Sie sollten eine Art Regelmäßigkeit einführen. In der gleichen Zeit eines Monats oder Jahres lassen sich dann mehr Höhepunkte unterbringen. Sie müssten es planen und das humane Grundrecht des Menschen auf geregelten Geschlechtsverkehr ernster nehmen.‘
    bq. Die Eheleute werden widersprechen: ,Nach Ihrer Methode sind wir durch, ehe wir ankommen. Wir müssen an einigen der Umwege und Irrtümer festhalten, weil (1) etwas sich in den Umarmungen versteckt, was sich, wenn wir es in Worte fassen, verliert; (2) weil wir aus Rebellion bestehen; (3) wegen der subtileren Messweise der Sinne.‘
    bq. Es ist nicht alles absurd, was der Arbeitszeitmesser zu den Eheleuten sagen könnte. Er stöbert in ihren Gewohnheiten. Diese sind betriebsblind geworden.«

  • Ein Videomitschnitt versetzt mich ins Jahr 1986. Helmuth Thoma, Chef des Radio und Fernsehsenders Radio Television Luxenburg, Günther Struve, damals WDR Programmchef diskutieren mit Frau Noelle-Neumann, Vilém Flusser und Jean Baudrillard die elektronischen Medien.
    Thoma redet powerpointtauglichen Mist, die gleiche Präsentation, die er zu Beginn der 80er der CDU und den Banken erzählt hat. Struve ist richtig gut. Spielt das Realitätskorrektiv zur Theorie. Noelle-Neumann: Die Grande Dame, trägt lila-rotes Karo, dazu eine meterlange Gliederkette. Baudrillard vermutet ein Möbiusband am falschen Fleck.
    Und Flusser? Und Baudrillard? Werden zum Großteil verstanden; hab ich mir eingeredet. Flussers Brillen lenken ab. Immer zwei auf dem Kopf. Zeitweise zwei auf einer Stirn. Die untere rutscht schon mal im Redefluss herunter, hängt schief oder trifft doch den Nasenrücken. Das übergeht er jedoch.
    Gestern hab ich mit einem Freund darüber unterhalten. Wie sehr die elektronische ‚Revolution‘ herbeigesehnt wurde. Um dann in entweder kritische und affirmative Konzepte verlegt zu werden. Und in spielerisch-ästhetische. Erstmal haben, erstmal schreiben. Ganz schön viele der Revolutionen nerven heute nur noch.

  • Das hat noch gefehlt. Der Fontifier modelt Handschriften in PC-Fonts um. Es ist also eine Computerhandschrift. [Via Romblog]

  • Tate Modern hat ein angeschlossenes Online Magazin. [Via Conscientious]

  • Gut – drei Ruff`sche Maschinen? Bei David Zwirner. Aber weil ja Kopftuchstreit ist – hier der Beitrag des Fotografen:
    Kopftuchstreit in Deutscheland

  • On photography: Thomas Ruff – zuletzt mit Nudes nicht ganz ernst genommen – stellt in Hannover »Maschinen« aus. Konzeptionelle Fotografie, Neue(ste) Sachlichkeit? Ich weiß es nicht. Dazu die TAZ.
    Was fiel sonst auf: Ein Fotoband. Handcolorierte Homoerotik der beliebtesten Taliban in heimeliger Alpenathmo. Hier 1|2|3 Beispiele.

  • Gestern wieder im Aufpasser-TV hängen geblieben. Unglaublich. Georg Michaelis, eigentlich sein eigener Sozialfall, führt sich darin auf wie Blockwart von Neukölln. Experte auf minimalsten Niveau. Dem Kiezdreck grad entkommen schlägt er sich auf die dunkle Seite der Verwaltungs- und Ordnungsmacht.
    Sorgt dafür, dass die Bürgersteige frei bleiben von türkischen Gemüsekisten oder gasbetriebenen Maiskochern. Alles schön ausmessen. Alles über 1 Meter vorm Schaufenster braucht ’ne Ausnahgenehmigung von’t Ordnungsamt. Wunderbar der verständnislose Blick der Inhaber. Die verstehen’s einfach nicht. So rein ordnungsformal. Verstehen es nicht.
    Übrigens eine recht heftige Tendenz des Privatfernsehens: Staatsmacht in allen Facetten verpackt in fieses Dokutainment. Jugendamt, Sozialabzocker Spezialkräfte, Familiengericht, Jugendgericht, Strafgericht, Autobahnpolizei, Grenzschutz, Ruhrpottcops (aba auch inne Kneipe treffbar, wa).

  • Chris Cunningham

  • Hmm – kein Ernst. Mehr Kitschmaschine. Untenstehendes Lamento, das auch nicht mehr als vorproduziertes Räuspern war. Auf Halde liegendes Lärmen – going public.