Malkontent & Enthusiastisch

»Ihr naht Euch wieder, schwankende Gestalten«

Das Universum (von anderen Bibliothek genannt) setzt sich aus einer unbestimmten, womöglich unendlichen Anzahl sechseckiger Galerien zusammen, mit weiten Entlüftungsschächten in der Mitte und sehr niedrigen Geländeeinfassungen. Von jedem Sechseck kann man die unteren und oberen Stockwerke sehen, in nicht endender Folge.

Auf jede Wand jedes Sechsecks kommen fünf Büchergestelle; jedes Gestell umfasst zweiunddreißig Bücher von gleichem Format; jedes Buch besteht aus einhundertundzehn Seiten, jede Seite aus vierzig Zeilen, jede Zeile aus achtzig Buchstaben von schwarzer Farbe.
Auf eine einzige verständliche Zeile oder eine treffende Anmerkung entfallen Meilen sinnloser Kakophonien, sprachlichen Kauderwelschs oder zusammenhanglosen Zeugs.

Als bekannt wurde, dass die Bibliothek alle Bücher umfasse, war der erste Eindruck ein überwältigendes Glücksgefühl. Alle Menschen wussten sich Herren über einen unversehrten und geheimnisvollen Schatz.
Zu Tausenden ließen Begehrliche ihre Heimatsechsecke im Stich und jagten die Treppen empor, von dem eitlen Drang bewegt, Rechtfertigungen für sich zu finden.

Auch erhoffte man sich Aufklärung über die grundlegenden Geheimnisse der Menschheit: den Ursprung der Bibliothek und der Zeit.

Es gibt amtliche Sucher, Inquisitoren. Ich habe gesehen, wie sie ihres Amtes walteten: sie machen immer einen strapazierten Eindruck, sie reden von einer Treppe ohne Stufen, die sie um ein Haar umgebracht hätte; sie reden mit dem Bibliothekar und unterhalten sich über Galerien und Treppen; manchmal greifen sie nach dem nächststehenden Buch und blättern darin, auf der Suche nach Schimpfworten. Offensichtlich hat keiner Hoffnung, irgend etwas zu entdecken.

Die bar der Ehrfurcht sind, versichern, dass in der Bibliothek der Unsinn an der Tagesordnung ist und dass das Vernunftgemäße (ja selbst das schlicht und recht Zusammenhängende) eine fast wundersame Ausnahme bildet.

Diese auf den ersten Blick zusammenhanglosen Fügungen entbehren gewiss nicht einer kryptographischen oder allegorischen Rechtfertigung.

Ich bin außerstande, eine Kombination von Schriftzeichen auszuhecken – dhcmrlchtdj – , die in der göttlichen Bibliothek nicht bereits vorgesehen ist und in irgend einer ihrer Geheimsprachen einen schrecklichen Sinn birgt.

Sprechen heißt ins Tautologische verfallen. Diese überflüssige und wortreiche Epistel steht bereits in einem der dreißig Bände der fünf Büchergestelle eines der unzählbaren Sechsecke – und auch ihre Widerlegung.
Die Gewissheit, dass alles niedergeschrieben ist, löst uns in Nichts auf und macht uns zu Geistern.

Ich hege die Vermutung, dass die Menschenart – die einzige, die es gibt – im Begriff ist auszusterben und dass die Bibliothek fortdauern wird: erleuchtet, einsam, unendlich, vollkommen, unbeweglich, gewappnet mit kostbaren Bänden, nutzlos, unverweslich, geheim.
Wenn ein ewiger Wanderer sie in irgend einer beliebigen Richtung durchmäße, würde er nach Ablauf einiger Jahrhunderte die Erfahrung machen, dass dieselben Bände in derselben Ungeordnetheit wiederkehren (aus dieser Ungeordnetheit würde durch Wiederholung eine Ordnung, der Ordo). Meine Einsamkeit gefällt sich in dieser aufheiternden Hoffnung.

Aus: Jorge Luis Borges, Die Bibliothek von Babel (1941)

Dazu auch: NZZ Netzstoff: Der wiedererwachte Traum von der «Bibliotheca Universalis»